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Was trennt uns als Gesellschaft?

Aktuelles SoVD-Zeitung - Artikel

Durch mehr soziale Gerechtigkeit will der SoVD eine weitere Spaltung verhindern

Menschengruppe läuft über einen Zebrastreifen. Im Vordergrund fährt ein Fahrrad auf den Betrachter zu.
Unerbittliche Diskussionen und politische Streitthemen scheinen die Menschen in Deutschland immer mehr voneinander zu entfernen. Foto: trattieritratti / Adobe Stock

Die EU-Wahl machte es deutlich: Die Menschen sind mit der Mehrheit der etablierten Parteien unzufrieden. Sorgen bereiten der SoVD-Vorstandsvorsitzenden Michaela Engelmeier dabei die Zugewinne rechter Parteien. Sie rief dazu auf, sich einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzustellen. Die Politik, so Engelmeier, müsse die Unzufriedenheit ernst nehmen und durch eine stärkere soziale Sicherung das Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen.

Gibt es immer größere Risse in unserer Gemeinschaft? Und werden die Gräben zwischen den verschiedenen Lagern immer tiefer? Zumindest, wenn man sich den Zulauf anschaut, den vor allem Parteien am Rande des politischen Spektrums erhalten, scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen. Aus der Wahl zum Europäischen Parlament Anfang Juni gingen besonders rechtspopulistische Bewegungen gestärkt hervor – auch in Deutschland.

Für die Professorin Bettina Kohlrausch stecken hinter dieser Entwicklung diffuse, aber weit verbreitete Gefühle von Verunsicherung und Unzufriedenheit.

Schwindendes Vertrauen in Politik und Staat

Die Direktorin am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung leitet daraus das Bild eines in vielerlei Hinsicht gespaltenen Landes ab. Prozesse wie die Digitalisierung oder die Globalisierung, so Kohlrausch, machten vielen Menschen Angst. Gleichzeitig trauten sie dem politischen System nicht zu, diese großen Herausforderungen zu bewältigen.

Die Soziologie-Professorin warnt davor, dass sich gerade populistische Parteien diese Sorgen und die Angst vor einem Kontrollverlust zunutze machen und so zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Wolle die Politik dieser Entwicklung etwas entgegensetzen, müsse sie Angebote zu einer besseren sozialen Absicherung machen und vor allem glaubhaft vermitteln, dass die Probleme politisch gestaltbar sind.

SoVD sieht Bundesregierung in der Verantwortung

Ähnlich bewertet der SoVD die derzeitige Entwicklung. Die Vorstandsvorsitzende des Verbandes, Michaela Engelmeier, erklärte, das Erstarken der Demokratiefeinde sei auch Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit der Politik der vergangenen Jahre.

Laut Engelmeier gelte es nun, auf europäischer Ebene die soziale Sicherung zu stärken und für Steuergerechtigkeit zu sorgen. Das Ergebnis der Europawahl sei aber auch ein Arbeitsauftrag an die Bundesregierung, einer weiteren Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Zusammenhalt hängt stark von Inklusion ab

In ihrem Projekt „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ misst die Bertelsmann Stiftung, wie es um das solidarische Miteinander in verschiedenen Staaten tatsächlich bestellt ist. Für Deutschland kommen die Untersuchungen dabei zu dem Ergebnis, dass die Notwendigkeit und auch die Chance, etwas zu verbessern, vor allem im Bereich einer umfassend verstandenen Inklusion liegen. Den Wissenschaftler*innen zufolge geht es hierbei allgemein um eine größere Akzeptanz von Menschen mit abweichenden Lebensstilen und -entwürfen.

Ein wichtiger „Schlüssel“ zur Überwindung von Spaltung liegt somit in der Teilhabe, im Mitmachen. Und das hat einen positiven Nebeneffekt. Denn die Studie der Stiftung zeigt auch, dass Menschen vor allem dann ein zufriedenes und erfülltes Leben führen, wenn sie in einem Gemeinwesen leben, dem sie sich zugehörig fühlen, in dem sie miteinander verbunden sind und wo sie sich für das Gemeinwohl einsetzen.

Interview mit Verena Carl und Dr. Kai Unzicker„Wandel nicht leugnen, sondern gestalten“

Demografischer Wandel, Digitalisierung, Klimakrise – unsere Gesellschaft steht vor enormen Herausforderungen. Gleichzeitig scheinen sich die politischen Diskussionen immer mehr zu verhärten. Wie finden wir wieder zueinander? Für ihr Buch „Anders wird gut. Berichte aus der Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ haben die Journalistin Verena Carl und der Sozialforscher Dr. Kai Unzicker Beispiele politischer Beteiligung und ehrenamtlichen Engagements zusammengetragen, die Hoffnung machen.

___Gefühlt bestimmen immer mehr Krisen unseren Alltag. Leidet darunter das Miteinander in unserer Gesellschaft?

Unzicker: Kriege und Ungleichheit gab es schon in der Vergangenheit. Wir leben in einer Zeit, wo uns Krisen unglaublich bewusst sind, weil über nahezu jede Katastrophe sofort berichtet wird. Das erzeugt schnell ein Gefühl von Überforderung. Wer aber Angst vor der Zukunft hat, will an dem Jetzt festhalten und sperrt sich gegen Veränderung. Einfach ausgedrückt: Wer heute die Miete nicht bezahlen kann, sorgt sich weniger um einen in 20 Jahren akuten Klimawandel. Dadurch entsteht aber eine vermeintliche Konfrontation von Problemen, bei der man den Eindruck hat, man könne entweder Kitaplätze schaffen oder den Klimawandel bekämpfen.

___Wie gehen Menschen mit dieser Häufung von Problemen um?

Unzicker: Krisen oder eine zunehmende soziale Ungleichheit führen bei einigen Leuten dazu, dass sie sich aktivieren und sagen: „Da müssen wir etwas gegen machen!“ Es gibt aber auch Menschen, die anders reagieren und sich zurückziehen. Bei ihnen wächst im Gegenteil der Wunsch, dass sich nichts verändert. Das ist meist aber kontraproduktiv. Sinnvoller ist es, Veränderungen aktiv zu gestalten und sich einzubringen. Denn Leuten, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, denen geht es am Ende auch besser.

Carl: Das gilt vielleicht nicht in der gleichen Weise für Menschen, die sich für eine rückwärtsgewandte Bewegung engagieren. Dabei geht es meist darum, eine gestrige und vermeintlich heile Welt zu erhalten oder wieder zu erschaffen, anstatt den Wandel aktiv zu gestalten.

___Haben Sie ein positives Beispiel dafür, wo genau das gelungen ist?

Carl: Beeindruckt hat mich unter anderem die Gemeinde Sohland in der Nähe von Görlitz. Nach der Wende fühlten sich die Menschen dort zunehmend abgehängt. Viele zogen weg und der Ort schien dem Dorfsterben ausgeliefert zu sein. Dann aber gründeten einige Frauen die Initiative „Sohland lebt“ und richteten in einem leerstehenden Gebäude ein Begegnungszentrum ein. Dort gibt es heute ein Café und es finden Konzerte, Diskussionsveranstaltungen und Filmabende statt. Zwar knirscht es bei diesem Sozialexperiment im Dorfgefüge hin und wieder. Aber viele kommen dorthin, weil sie gemeinsam etwas schaffen wollen, was ihnen unabhängig von der jeweiligen politischen Ausrichtung ein Ziel gibt, nämlich einen Ort der Begegnung, an dem man miteinander ins Gespräch kommt.

___Das heißt, wir müssen manchmal Widersprüche aushalten und andere Meinungen akzeptieren?

Carl: Bei diesem wie auch bei anderen Beispielen, die ich erlebt habe, geht es um eine ernsthafte Auseinandersetzung, um Zuhören, Positionen-Sehen und Kompromisse-Finden. Mein Eindruck war immer wieder: Wenn Leute sich die Mühe machen und auch gewisse Spannungen aushalten, dann schafft das etwas Belastbares, was sonst nicht da ist.

Unzicker: Aus unseren Studien wissen wir zudem, dass da, wo die Leute eingebunden sind, wo sie viele Kontakte haben und sich engagieren, ist auch der Hang zu Verschwörungstheorien oder zu rechtspopulistischen Einstellungen geringer. Das heißt, eine funktionierende Sozialgemeinschaft, in der die Leute keineswegs alle einer Meinung sein müssen, aber in der sie gemeinsam im Gemeinwesen handeln, macht eine Gesellschaft resilient.

___Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund Vereine oder Verbände wie der SoVD?

Unzicker: Als Interessenvertretung oder als Orte für soziale Kontakte haben die klassischen Mitgliedsorganisationen über Jahrzehnte gut funktioniert. Eine formelle Mitgliedschaft und starre Strukturen schrecken allerdings viele Leute ab. Das ist eine Herausforderung, vor der große Organisationen leider immer häufiger stehen. Die Bereitschaft der Menschen, sich zu engagieren, ist aber weiterhin sehr groß.

Das Buch „Anders wird gut“ ist im Verlag Bertelsmann Stiftung erschienen und kostet 20 Euro.