In Deutschland gehört Prof. Dr. med. Klaus Fließbach zu den führenden Expert*innen auf dem Gebiet demenzieller Erkrankungen. Als Oberarzt leitet er am Universitätsklinikum Bonn unter anderem eine Gedächtnisambulanz. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Demenz. Nicht jetzt!“ schildert er, wie man sich auch nach einer entsprechenden Diagnose ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Lebensqualität bewahren kann. Die SoVD-Zeitung „Soziales im Blick“ sprach mit Professor Fließbach über seine beruflichen Erfahrungen und über die gravierenden Auswirkungen auf das Leben von Betroffenen und Angehörigen.
Sie leiten die Gedächtnisambulanz an der Uniklinik Bonn. Wie muss man sich die Arbeit dort vorstellen?
Zu uns kommen Menschen, die in der Regel noch nicht schwer beeinträchtigt sind. Sie oder auch ihre Angehörigen nehmen erste Symptome wahr und machen sich deswegen Sorgen. Dahinter kann natürlich immer auch etwas anderes stecken, zum Beispiel eine Depression. Wenn wir allerdings tatsächlich die Erstdiagnose einer demenziellen Erkrankung stellen, dann begleiten wir die Betroffenen danach auch weiter auf ihrem Weg. Das heißt, wir sehen sie regelmäßig und schauen, ob wir die Medikamente anpassen können oder inwieweit andere Therapien infrage kommen.
Ist das nicht ein dramatischer Moment, wenn Sie Menschen mitteilen, dass Sie bei ihnen eine Demenz festgestellt haben?
Das ist so. Wobei gerade die Angehörigen bestehende Probleme oftmals schon recht deutlich wahrgenommen haben. Sie sind auf eine entsprechende Diagnose in gewisser Weise vorbereitet und nicht unbedingt mehr überrascht.
Kann Ihr Buch hier eine Art Hilfestellung geben?
Ich arbeite schon seit 2012 in der Gedächtnisambulanz und habe zahlreiche Patientinnen und Patienten im ambulanten Bereich betreut. Dabei konnte ich viele wertvolle Erfahrungen sammeln und kenne die Ängste und die Fragen der Betroffenen. Das Buch enthält deshalb im Wesentlichen das, was ich auch in den Ambulanzgesprächen zu vermitteln versuche. Denn abhängig vom Wohnort hat ja auch nicht jeder die Möglichkeit, so eine spezialisierte Ambulanz überhaupt aufzusuchen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung nimmt seit Jahren zu. Gleichzeitig steigt im höheren Alter auch das Demenzrisiko. Kommen wir um das Thema überhaupt noch herum?
Wir sollten uns damit auf jeden Fall auseinandersetzen. Ich finde das auch wichtig für die eigene Lebensplanung. Ein ganz einfaches Beispiel ist eine Vorsorgevollmacht, die viele Leute noch immer nicht haben. Darin regelt man, wer einen gesetzlich vertritt, wenn man vielleicht nicht mehr geschäftsfähig ist. Auch die Frage, wie man wohnen möchte, sollte man rechtzeitig klären. Ich erlebe Menschen, die kommen bei uns auf die geschützte Station, weil es zu Hause irgendwann nicht mehr ging. Dabei wäre es doch viel besser, wenn Betroffene von vornherein mitentscheiden könnten, was mit ihnen passiert.
Dann ist es also mit Blick auf die Selbstbestimmung sinnvoll, eine Erkrankung möglichst früh zu diagnostizieren?
Das wäre auch hinsichtlich der Behandlung wünschenswert. Vor Kurzem fiel ja die Entscheidung, in Europa Medikamente zuzulassen, die bei den Eiweißablagerungen ansetzen. Eine solche ursächliche Behandlung der Alzheimer-Krankheit ist umso erfolgversprechender, je eher man sie beginnt. Das spricht aus meiner Sicht für Früherkennung.
Gibt es denn auch etwas, das vielleicht dagegen spricht?
Es gibt natürlich auch ein Recht auf Nichtwissen. Man kann niemanden dazu zwingen, eine etwaige Demenz abklären zu lassen. Wenn man sagt, man möchte das nicht, dann ist das legitim.
Sie raten dazu, geistig aktiv zu bleiben. Meinen Sie damit Kreuzworträtsel und Denksportaufgaben?
Wer Rätsel oder auch Sudokus mag, kann diese weiter lösen. Es gibt auch sinnvolle Apps für ein wissenschaftliches Gedächtnistraining. Aber mir geht es eigentlich um eine umfassende Stimulation des Gehirns. Und die besteht unter anderem darin, sich mit anderen Menschen auszutauschen und soziale Interaktion zu pflegen.
Mit einer demenziellen Erkrankung ist das sicher nicht immer ganz einfach.
Das ist richtig. Denn zum einen führt Demenz häufig zu einem Rückzug. Meist geschieht das aus Scham oder weil es schlicht weniger Freude macht, wenn man Gesprächen nicht mehr folgen kann. Zum anderen entwickeln viele Betroffene auch eine gewisse Antriebsarmut, eine Apathie. Das führt häufig dazu, dass sie zu Hause bleiben und sich scheinbar für nichts mehr interessieren. Gerade im frühen Stadium einer Erkrankung sollte man aber Aktivitäten pflegen. Neben Kino oder Theater sind in dieser Phase auch Ausflüge und Reisen oftmals noch möglich. Ich gebe zu, das ist leicht gesagt, und es hängt natürlich stark von der individuellen Situation ab. Aber das ist sozusagen mein Tipp.
Eine entscheidende Rolle spielt wahrscheinlich auch das jeweilige Umfeld. Wie erleben Sie in Ihrem Alltag als Mediziner die Situation der Angehörigen?
Ich wurde neulich mal gefragt, wo ich in meiner langjährigen Beschäftigung mit Demenz etwas dazugelernt habe. Und da konnte ich klar sagen, dass ich immer wieder sehe, wie belastend das für die Angehörigen ist. Weil die selbst das häufig gar nicht thematisieren, hat es etwas gedauert, bis mir klar wurde, dass die meisten von ihnen hart an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind.
Wie wirkt sich dieser enorme Druck aus?
Da gibt es durchaus Unterschiede. Manche Angehörige etwa können die Situation nicht akzeptieren. Sie wollen es nicht wahrhaben und zweifeln unter Umständen die Diagnose an. Andere reagieren mit Vorwürfen in Richtung der Erkrankten, weil zum Beispiel der gemeinsame Ruhestand plötzlich ganz anders als geplant abläuft. Und das ist ja auch so. Eine Demenzerkrankung baut das Leben komplett um. Sie ist organisatorisch und finanziell eine riesige Belastung. Das löst natürlich Frust aus.
Zumal unsere Gesellschaft Angehörigen ja eine bestimmte Rolle zuweist. Man scheint von ihnen quasi zu erwarten, dass sie sich kümmern.
Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, die Angehörigen zu fragen, wie es denn bei ihnen aussieht und ob sie das noch schaffen. Unterstützungsangebote gibt es ja durchaus. Nach der Diagnose Demenz sollte man daher so schnell wie möglich einen Pflegegrad beantragen. Von den Betroffenen und auch von deren Angehörigen höre ich allerdings immer wieder: „So schlimm ist das doch noch gar nicht. Wir brauchen doch keine Pflege!“ Da wird leider oft noch nicht gesehen, dass die Betreuung im Alltag und das ständige Aufpassen ja auch pflegerische Leistungen sind. Und dieser Bedarf nimmt im Laufe der Zeit noch zu. Deshalb ist es wichtig, unter anderem auch eine Möglichkeit für Verhinderungspflege zu schaffen für den Fall, dass die pflegende Person selbst mal ausfällt. Das gibt dann eine gewisse Sicherheit.
Und es bietet den Pflegenden selbst etwas Entlastung.
Absolut. Hilfreich sind auch Einrichtungen zur Tagespflege. Es gibt natürlich Menschen, die das für sich strikt ablehnen und wo das dann auch nicht klappt. Die meisten aber akzeptieren das letztlich doch ganz gut. Ich bekomme sehr häufig zu hören, dass Betroffene dort gerne hingehen und sich darauf freuen. Das führt neben sozialen Kontakten und Aktivitäten eben auch zur Entlastung der Angehörigen.
Wenn Sie jetzt mit all Ihrem Wissen in die Zukunft schauen, treibt Sie dann eher die Sorge um oder sind Sie guter Dinge?
Es steht fest, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr Fälle haben werden. Gleichzeitig gibt es aber auch einen positiven Aspekt. Denn das individuelle Demenzrisiko ist sogar eher gesunken. Das heißt, unsere Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, ist schon messbar geringer als die unserer Eltern. Das hat etwas mit einem durchschnittlich höheren Gesundheitsbewusstsein zu tun, weil wir heute insgesamt mehr Wert legen auf Dinge wie Bewegung oder gesunde Ernährung.
Trotzdem ist ein Mittel, das zuverlässig gegen Demenz hilft, bisher nicht in Sicht?
Diese neuen Medikamente, die jetzt zugelassen werden, kommen eingeschränkt erst einmal nur für wenige Menschen in Betracht. Dennoch sind wir schon einen großen Schritt vorangekommen. Eine Wunderpille wird es aber aller Voraussicht nach nicht geben. Dafür spielen bei Alzheimer, der mit zwei Dritteln häufigsten Ursache für Demenz, einfach zu viele Faktoren eine Rolle. Natürlich hoffe ich, dass wir da deutliche Fortschritte erzielen und immer mehr Menschen helfen können. Aber auch wenn wir in zwanzig Jahren vielleicht schon deutlich mehr tun können, werden wir selbst dann das Thema Demenz nicht komplett aus der Welt haben.